Welche Rolle spiel ich hier?

Episoden aus dem Triebwerkerleben von Jürgen Vogt

Einen Tag nach unserer Ankunft in Minden überführte der Pilot die MiG-21UM, Nummer 3036 von Atwater/ Kalifornien nach Minden zur Jahresinspektion. Natürlich machte er vor der Landung noch einige spektakuläre Überflüge über dem Platz und zwischen die angrenzenden Berge hindurch. Nachdem er uns, das sind Jimmy, Uwe, der für den erkrankten Klaus eingesprungen war und meine Person, das Flugzeug übergeben hatte, befragte ich ihn nach eventuellen Besonderheiten. Er tat, als hätte er es fast vergessen: Das Flugzeug vibriere in der letzten Zeit sehr stark und dieses besonders im maximalen Leistungsregime und bei Nachbrennerarbeit.

 

Er schlug aller Ernstes vor, ich sollte doch einsteigen, dann würde er es mir in der Luft zeigen. Das war mir doch zu viel. Ich war hier nicht als Testpilot geordert, und mehr als diese Vibration verspüren konnte auch ich nicht. Außerdem geht man mit einem Flugzeug mit solch deutlichen Symptomen nicht mehr in die Luft. Leider sind die MiG-21 noch nicht mit Vibrationswarnanlagen ausgerüstet, wie sie bei späteren Flugzeugen Selbstverständlichkeit sind.

 

Ich versprach, der Sache im Verlauf der Inspektion nachzugehen. Weil das Schmieröl des Triebwerkes vom Flug noch warm war, begann ich es sogleich abzulassen. Was ich dabei sah, hatte ich selbst nach meinen vielen Triebwerkerjahren so noch nicht gesehen. Das Öl war nicht wie gewohnt, gelb bis bräunlich gefärbt. Es war anthrazitfarben, ähnlich dem Grafitöl. In ihm schwammen unzählige silberne und goldfarbene Partikel. Die Sache war ziemlich eindeutig. Diese Partikel waren Bestandteile der Triebwerkslagerung. Sofort öffnete ich im rechten Fahrwerksschacht die Zugangsluke zum Verdichter. Der Verdichter sah aus wie ein ungepflegtes Gebiss. Halbe Laufschaufeln sowie komplett fehlende Schaufeln. Den Gesichtszügen des Piloten als auch denen seines Mechanikers war es anzusehen: Hier waren sie ganz knapp einer Havarie oder Schlimmerem entgangen.

 

Als Erstes benötigten wir ein intaktes Triebwerk. Dieses wurde auch sehr bald angeliefert. Was dem Triebwerk fehlte, war sein Dokument. Ich gab den Amerikanern zu verstehen: No book- no flight! Allein zur Bestimmung der individuellen Leistungsdaten des Triebwerkes, wie den reduzierten Drehzahlen, ist dieses Dokument von Nöten. Das sahen die Amerikaner gar nicht so. Diese pedantische Form der Nachweisführung ist ihnen unbekannt. In der Zwischenzeit befassten wir uns mit Inspektionsarbeiten.

 

Tage später kamen die Bücher doch. Mir kamen sie irgendwie bekannt vor. Beim Durchblättern fand ich wahrlich meinen Eintrag aus früheren Jahren. Das Triebwerk stammte aus einer Rothenburger MiG. Wie es in die Staaten gekommen ist, habe ich nie in Erfahrung bringen können.

 

Am 09. Oktober waren wir soweit. Die 3036 stand zum Überprüfungsflug nach der Inspektion und dem Umbau des Triebwerkes bereit. Vorher waren noch die Bremsen einzuschleifen. Beide Räder der Hauptfahrwerke hatten restaurierte Bremsen erhalten. Dieses versuchte ich den Piloten, als auch dem amerikanischen Mechaniker über einen Dolmetscher zu vermitteln. Der Vorgang wird wie folgt praktiziert:
Zuerst wird in einer Schlangenlinie gerollt.
Danach folgt eine Bremsprobe.
Ist diese zufriedenstellend, wird auf der Startbahn mit erhöhter Geschwindigkeit gerollt und abgebremst.
Ist die Bremswirkung gut, kann das Flugzeug zum Flug vorbereitet werden.

 

Doch was geschah hier? Der Pilot rollte zielstrebig zum Startpunkt. Hier gab er volle Drehzahl und rollte los. Das Flugzeug wurde schnell und immer schneller. Schon bald war das Bugrad in der Luft. Als er die Hälfte der Bahn erreichte, nahm er die Leistung zurück. Was nun folgen musste, mochte ich nicht mehr sehen. Aber irgendwann muss man die Tatsachen respektieren.

 

Ich sah hinter der Startbahn, so 100 Meter in der Wüste, eine riesige Staubwolke. Aus dieser schimmerten verschwommen die Konturen der MiG. Sofort waren wir in den Autos und fuhren dahin. Das Flugzeug stand im Geröll. Der Pilot hatte sein Dach bereits geöffnet und gab uns zu verstehen: Er habe das neue Triebwerk gerettet, indem er es bei Erkenntnis der ausweglosen Situation abgestellt habe. Auch sonst ginge es ihm den Umständen entsprechend gut. Das war die gute Nachricht. Das Flugzeug selbst sah nicht so gut aus. Die Fahrwerke, in den Bremsen, alles voller Sand. Wir schleppten das Flugzeug in den Hangar und führten nochmals eine Fahrwerkinspektion durch. Danach stand die MiG erneut zum Rollen bereit.

 

Der Pilot erklärte, seine Aufgabe nun richtig verstanden zu haben. Er vollführte seine Rollmanöver exakt wie ein Flugschüler. Als er die Runde vollendet hatte, füllte der Mechaniker Stickstoff nach und er rollte erneut los. Auf die Frage, was dieses solle, bekam ich zur Antwort: Das Bremsvermögen scheint noch nicht ausreichend zu sein, deswegen hängt er noch eine Runde an. Ich hoffte, dass dieses nicht zu viel werde. Die Hoffnung erfüllte sich nicht.

 

Als das Flugzeug nach der zweiten Runde auf den Abstellplatz einbog, schlugen aus beiden Rädern die Flammen. Jetzt hieß es schnell zu handeln. Uwe schlug den Wasserschlauch vor, ich befürchtete, dass dabei in den Felgen Risse entstehen könnten. Also einigten wir uns auf Stickstoff. Jeder auf einer Seite. Plötzlich gab es am Rumpfbug einen Knall. Was wir in der Aufregung nicht bemerkten, das Bugrad brannte lichterloh und soeben war sein Reifen geplatzt. Der Pilot musste die gesamte Zeit mit eingeschalteter Bugradbremse gerollt sein, obwohl die Fluginstruktion für die MiG-21 ganz klar festlegt, das diese nur zur Landung genutzt werden darf.

 

Als wir die Sache endlich in Griff bekamen und sich die Anspannung löste, stellten wir fest: Wir drei, Uwe, Jimmy und ich, wir waren ganz allein. Weit und breit kein Amerikaner mehr zu sehen. Für das Flugzeug bedeutete es, wieder zurück in den Hangar. Wieder aufbocken, die Räder und die Bremsen ab, ein neues Bugrad beschaffen. Zum dritten Mal eine Fahrwerksinspektion.

 

Insgesamt war das doch zu viel der Tragik. Ich fragte mich ernsthaft, welche Rolle mir in diesem verrückten Spiel zukommt. Ich wollte nur noch nach Hause. Das ging aus verschiedenen Gründen natürlich nicht, auch war das Zuhause etwa 9000km entfernt. Am Abend ergriff Uwe die Initiative. Er lud uns ein in unser Lieblings- Mexikaner- Restaurant. Bei guten Speisen und einigen scharfen Mixgetränken wechselten wir bald das Thema. Wir erzählten von unseren Familien und von besseren Zeiten. Am nächsten Morgen schien wie immer in Nevada die Sonne und die 3036 hob mit voller Nachbrennerleistung zum Überprüfungsflug ab. Vierzig unruhige Minuten später meldete der Pilot aus Atwater: Der gesamte Flug, bis zur Landung, keine Beanstandungen.

 

Ende gut- alles gut.